Heike Zirden [Hrsg.]: Club der jungen Götter. Frankfurt am Main April 2009, dieGesellschafter.de bei Zweitausendeins, ISBN 3-86150-898-2, Paperback 12,5 cm x 20,5 cm, 192 Seiten, 7,90 Euro (nur bei http://www.zweitausendeins.de/ und in Läden von Zweitausendeins erhältlich)
Hinweis: Diese Buchbesprechung basiert auf den Besprechungen, die ich für die Jury-Sitzung am Di, den 28.11.2006 erstellt hatte. Die 15 ausgewählten Geschichten wurden danach einem ausführlichen Lektorat unterzogen, was die Verzögerung beim Erscheinen erklärt. Die Geschichten sind daher vermutlich deutlich anders als damals (so lautete der Originaltitel der Geschichte von Katharina Otto »Die Tür nach draußen«). Wenn ich Zeit habe, werde ich die Besprechungen aktualisieren.
enthält: (*: keine SF)
Janina Branston arbeitet als Programmiererin. Sie hatte mal einen Nachbarn, der mit den Primitiven draußen Handel trieb - Kunst für die Reichen. Es kommt zu einem Energeausfall, bei dem sie in ihrem Hoover feststeckt. Sie kann sich durch einen Notausgang befreien, doch der führt nach draußen. Sie ist überwältigt von den Gerüchen und Geräuschen.
Eine sehr behutsam erzählte melancholische Geschichte, in der es die Autorin versteht, mit großem schriftstellerischen Geschick zwei so eng benachbarte und doch so unterschiedliche Kulturen darzustellen. Obwohl der Leser nur winzige Ausschnitte beider Gesellschaften zu lesen bekommt, werden beide Welten nachvollziehbar und die Charaktere lebendig.
Die Ich-Erzählerin lebt in N., das auf einem atomaren Endlager errichtet wurde. Sie war noch ein Straßenkind, als das Endlager entdeckt wurde und alle, die konnten, flohen. Inzwischen leidet sie an den ersten Symptomen der Strahlenkrankheit. Sie arbeitet in einem unverseuchten Bereich in einer großen Wasserpumpe, die von vielen Menschen wie ihr sowie Strafgefangenen durch ein großes Rad mit den Füßen angetrieben wird.
Die Situation der Erzählerin wird sehr eindringlich mit guter Sprachbeherrschung geschildert. Die Situation in N. wird verständlich erklärt, die Notwendigkeit der Wasserförderung liegt vermutlich am Klimawandel, aber warum die Pumpen mit Muskelkraft angetrieben werden müssen, bleibt unklar. Dieser Beitrag wurde übrigens als einziger in der Endauswahl auf einer Schreibmaschine getippt.
Anis, Lea, das 10.000-Euro-Kind Olga und ihr kleiner Bruder Viktor haben nach der Schule Langeweile. Olga beschließt, den Gerüchten, die Schnecken (alte Menschen) würden Reichtümer in ihren Wohnungen verstecken, um mehr Stütze zu bekommen, nachzugehen. Sie steigen durch eine offene Balkontür ein, werden aber überrascht...
Der Autorin gelingt es, die Misere der nutzlosen Alten sehr eindrücklich zu schildern. Aus der unschuldigen Perspektive der Kinder wird die Problematik schonungslos offengelegt. Situation und Umgebung werden wort- und bildgewaltig geschildert, auch wenn das nicht zu einem kindlichen Ich-Erzähler paßt. Eine eindringliche Aufarbeitung der zu befürchtenden »Altenschwemme« durch die geburtenstarken Jahrgänge.
Ein Wachsoldat auf der Mauer schreibt seinem russischen Freunbd Jewgeni einen Brief, in dem er seine Gadanken darlegt, die ihn während der nächtlichen Wache heimsuchen.
Die Geschichte beginnt raffiniert: Ein Berliner steht Wache auf der Mauer und schreibt seinem russischen Freund und Kameraden Jewgeni einen Brief. Das dürfte bei den meisten Deutschen, zumindest den über 30jährigen, unangenehme Erinnerungen wecken. Dann berichtet der Brief auch noch, daß die 3jährige Tochter Ayla bald ins 2. Schuljahr kommen wird, wo ihr viele Injektionen verabreicht werden. Das klingt nach Doping oder Drogen. Später stellt sich heraus, daß auf diese Weise Wissen vermittelt wird. Auch die Mauer steht nicht mehr in Berlin, sondern in Südspanien und umrundet vermutlich ganz Europa, zu dem erstaunlicherweise auch die Türkei zu gehören scheint, obwohl an anderer Stelle von der Gefahr durch den immer mehr erstarkenden Islam in Afrika die Rede ist. Dieser mögliche Widerspruch wird leider nicht näher erläutert. Die Geschichte ist in einer klaren und ausdrucksvollen Sprache verfaßt. Der Autor bringt philosophische Gedanken mit ein, die der Situation einen ironischen Unterton verleihen. In letzter Zeit gab es einige SF-Geschichten, in denen eine Mauer oder eine schwerbewachte Grenze zum Schutze Europas existiert, z. B. César Mallorquí: »Die Mauer für eine Trillion Euro (es: El muro de un trillión de euros)« in Andreas Eschbach [Hrsg.]: »Eine Trillion Euro« und Wolfgang Jeschke: »Das Cusanus-Spiel«. »The Beauty of Grey« behandelt das Thema am eindringlichsten und besten, gibt dabei Denkanstöße für unser Verhältnis mit dem Rest unseres Planeten.
Es gibt fast nur noch alte Menschen, die Langsamkeitsgesetze und ähnliches durchgesetzt haben. Die wenigen jungen Leute verlieren oft ihre Jobs an erfahrenere Alte. Im »Club der jungen Götter« treffen sich regelmäßig junge Leute, darunter Nike, Nick, Mars, Hari und Bo, die alle von ihren Eltern an Konzerne verkauft worden waren und nun auf der Stirn das Logo des namengebenden Konzerns eintätowiert tragen. Nike ist schwanger und würde ihrem Kind das Branding gern ersparen, sieht aber keine andere Möglichkeit, dem Teufelskreis zu entgehen, als das Kind an den höchstbietenden Konzern zu verkaufen.
Die Situation der jungen Menschen wird aus dem Blickwinkel Nikes anschaulich und eindringlich erzählt. Nikes Weg zu ihrer Entscheidung und wie sie sich dabei fühlt wird in klarer und eindringlicher Sprache nahegebracht. Dabei ist die zukünftige Gesellschaft plausibel aus bereits heute erkennbaren Trends abgeleitet: Überalterung, Zunahme der Konzernmacht und die Notwendigkeit der Werbeindustrie, immer neue Werbeformen zu finden.
Der Ich-Erzähler wird als unsichtbares Kind geboren, was zu der Zeit immer häufiger vorkommt. Beim Sitzenbleiben wird er noch unsichtbarer, mit dem Abitur aber immerhin durchscheinend...
Es handelt sich hier nicht wirklich um Science Fiction. Die Sichtbarkeit wird hier als Indikator für die scheinbare Nützlichkeit der Person verwendet. Es erfolgt aber leider keine Auseinandersetzung mit dem Thema, es wird einfach nur die Lebensgeschichte erzählt. Somit bleibt es dem Leser überlassen, daraus Schlüsse zu ziehen, ohne vom Autor dazu Anstöße zu bekommen.
Die Sozialwissenschaftlerin Greta Mönnig führt 2207 ein Selbstexperiment durch: Sie verzichtet auf die AMD (Annual Medical Dose), so daß ihr Hormonspiegel und damit ihre Gefühle nicht mehr perfekt eingestellt sind, sie erlebt aber auch nicht die einwöchige Hitze, in der die sonst hormonell unterdrückte Sexualität exzessiv ausgelebt wird. Eine wissenschaftliche Zeitschrift druckt ihren Erfahrungsbericht ab.
Die Geschichte liest sich tatsächlich wie eine wissenschaftliche Abhandlung, und zwar wie eine schlechte, denn die Fußnoten nehmen fast mehr Platz ein als der eigentliche Text. Eigentlich sollten Fußnoten nur für Literaturverweise und *kurze* Anmerkungen genutzt werden, Informationen, die zum Textzverständnis zwingend notwendig sind, gehören in den Text eingearbeitet und nicht in Fußnoten. Hier finden sich fast alle Hinweise auf die gesellschaftlichen Veränderungen in den Fußnoten, was Verständnis und Lesefluß stark stört. Die Idee von hormoneller Kontrolle und einer Hitze, in der den Gefühlen freien Lauf gelassen werden konnte, ist nicht neu und wurde schon in der klassischen Star Trek-Folge »Landru und die Ewigkeit (The Return of the Archons)« verwendet. Es fehlt wohl wegen der angeblichen Zensur (»Rücksichtsnahme«) jede kritische Auseinandersetzung mit den Gründen für die Wende - der Zusammenschluß aller Firmen in nur drei Monopolisten, die Einführung von 10-Stunden-Tag und 70-Stunden-Woche bei gleichzeitiger Abschaffung der meisten Maschinen zur Erlangung von Vollbeschäftigung klingt für mich nicht gerade menschenfreundlich, sondern eher nach der Trickkiste diverser Diktatoren. Auch der Verlust der Kunst wird nur kurz erwähnt - was bedeutet das dann für die Wissenschaften? Viele Durchbrüche waren spontane Eingebungen, keine logische Deduktion... Der Autor wohnt in Köln und läßt dort auch seine Protagonistin wohnen. Das gibt der Bezeichnung »Tolle Tage« für die Hitze eine besondere Note. Insgesamt läßt mich die Geschichte unbefriedigt zurück.
Im Jahr 069 der neuen Zeitrechnung nach der Großen Katastrophe und dem Langen Übergang wird am Nürnbergkrater ein fast intakter Kristallspeicher gefunden, aus dem ein Textfragment aus dem 21. Jahrhundert kurz vor der Katastrophe gewonnen werden konnte. Dort ist von einer Revolution der Gentherapie die Rede: Professor Werner Rundtzius erkennt, daß Das Einfügen von Genen nur dann funktioniert, wenn diese erst vor relativ kurzer Zeit evolutionär verlorengingen. Als ersten Test wählt er das Baculum, den Penisknochen, den alle Primaten außer dem Menschen haben. Die Therapie hat Erfolg, und Rundtzius wendet sich nützlicheren Genen zu, doch sein Doktorand Peter H. Meier verschafft sich heimlich das Patent und vermarktet es an ein Pharmaunternehmen. Die Baculum-Therapie macht ihn reich und führt zu starken Umwälzungen in der Gesellschaft, unter anderem zu Protesten seitens der Emanzipationsbewegung und der Religionen...
Flessner schreibt in seinem gewohnt humorvoll-groteskem Stil über die Auswirkungen eines solchen Penisknochens auf die menschliche Gesellschaft. Er berücksichtigt dabei auch weniger offensichtliche Auswirkungen wie den Rückgang von Sportwagenverkäufen (da die Männer ihre nicht mehr nachlassende Potenz nicht mehr anderweitig kompensieren müssen) und die nur von weiblicher Seite her zunehmende sexuelle Belästigung (das Baculum sorgt für Dauerpotenz, beeinflußt aber nicht das sexuelle Verlangen). Nur die Einführung aus ferner Zukunft liest sich anders und bildet einen Fremdkörper in der Geschichte, aber auch das gehört zu Flessners gewohntem Stil. Zwar gibt es eine kleine Stichelei, da aber weder ein Vergleich der beiden Kulturen noch irgendwelche Auswirkungen der Baculum-Therapie auf diese Zukunft beschrieben werden, scheint der einzige Sinn der Einführung darin zu bestehen, dem Autor dank Leseproblemen des alten Kristallspeichers die Ausarbeitung eines konsequenten Schlusses zu ersparen - auch das ein schon früher angewandter Kunstgriff Flessners in »Sausage Wars« aus Peter Flessner [Hrsg.]: »Reisen zum Planeten Franconia«, in der die gleiche Zukunft verwendet wird und auf deren Übermittlungsgabe-Nummer in der vorliegenden Geschichte sogar bezug genommen wird.
In Deutschland gab es 2032 eine Revolution gegen die Globalisierung, die die ganze europäische Union erfaßte und den technologischen Stand wieder ins 18. Jahrhundert brachte.
Die Geschichte ist stilecht in gotischer Schrift gedruckt, was sie umständlicher zu lesen macht. Die verwendete Sprache ähnelt auch eher der deutschen Schriftsprache vor der Rechtschreibreform 1901, es gibt aber auch Änderungen beziehungsweise Weiterentwicklungen, z. B. die Tilde über dem ñ wie im Spanischen. Der Autor muß sich intensiv mit der deutschen Sprache beschäftigt haben, was umso erstaunlicher ist, da es sich um einen Ungarn handelt. Die Geschichte kommt als Schulbuchtext daher und ist eine raffiniert gestaltete Auseinandersetzung mit der Globalisierung: Entweder wir machen mit, oder wir landen wieder in vorindustrieller Zeit. Da sind wir zwar vermutlich glücklicher, müssen aber hart arbeiten. Ich möchte nicht tauschen...
Die Umweltverschmutzung nimmt immer mehr zu. Es werden Ausweichstädte gebaut, die von der Außenwelt hermetisch abgfeschlossen sind und von ihren Bewohnern nicht mehr verlassen werden. Doch die Kapazität der AS ist begrenzt, und immer mehr Menschen wollen sich in sie flüchten...
Die Geschichte wird eher lieblos und distanziert erzählt, aber die Schlußpointe sitzt dafür umso mehr.
Dr. Sembten hat das Sternenkinder-Programm erfunden. Es kann sehr genau die Wahrscheinlichkeiten berechnen, daß ein gewünschter Typ aus einer Eizelle entstehen wird. Das wird unter anderem durch Verschmelzung von Eizellen erreicht.
Die unkonventionelle Erzählweise, in die die Lebensgeschichten mehrerer möglicher Wunschkinder eingearbeitet sind, zeigt auf, daß das Sternenkinder-Programm nicht nur ethische Tücken hat - die genetischen Vorraussetzungen allein sind nicht ausschlaggebend dafür, was aus einem Menschen wird. Es kann zu Störungen durch andere Menschen kommen, oder eine gewünschte Eigenschaft entwickelt sich anders als erwünscht. Insgesamt ist die Geschichte eine gut und interessant geschriebene Warnung davor, uns in die natürliche Selektion einzumischen.
Ines, Schwester der Ich-Erzählerin, will ihr Kind selbst austragen, statt es im Pränatal-Zetrum extra-uterinal aufwachsen zu lassen. Der Vorsitzende des Tribunals organisiert eine Besichtigungstour, um Ines Vorbehalte abzubauen.
Die Geschichte bemüht sich um Eindringlichkeit, was allerdings daran scheitert, daß unklar bleibt, für welche Seite sie sich ausspricht. Das Ende ist unklar und nicht wirklich verständlich.
Der Ich-Erzähler ist Krieger und Zauberer der Hochelfen. Doch er beschließt, diesen Teil des Cyberspace zu verlassen und sich einer anderen Herausforderung zu stellen: Der Simulation einer Siedlung auf dem Mars.
Nette Geschichte, die die Entwicklung des Cyberspace betrachtet und wie dieser sich nutzbringend verwenden ließe.
Ich-Erzähler Erich und Omar reisen gemeinsam durch den eiskalten Winterwald. In einem Hauskeller treffen sie auf Milena und ihre Nichte Alyssa. Alle haben sie ihre Gründe, vor der zwangsweisen Wiedereingliederung zu fliehen und erzählen sich ihre Geschichten.
Es gibt immer Außenseiter in der Gesellschaft, doch schon heute versuchen wir, sie zwangsweise zurückzuintegrieren. Einige werden sich solchem Zwang immer entziehen. Die Geschichte stellt drei Schicksale vor, die völlig unterschiedlich sind und doch letztlich in der Flucht mündeten. Die Lebenswege werden sanft und doch lebendig erzählt, der Grund für die Flucht des Erzählers ist mir allerdings unverständlich.
Cameron 223 arbeitet im Büro mit den Arbeitsorganen zwischen seinen Beinen, vier Durchgänge pro Arbeitstag sind Pflicht, zwischen denen er sich mit Kartenspielen erholen kann. Es gibt auch Andere, die im Gegensatz zu ihm im oberen Thorax zwei zusätzliche Dinge haben. Wer einen Anderen, und sei es bei einem Unfall, berührt, wird erschossen. Informationen kann sich Cameron kaum beschaffen, aber in seinem Schreibtisch versteckt er eine Sammlung von Zetteln, auf denen er sein ganzes Wissen notiert hat.
Die Geschichte baut sich langsam auf, der Leser muß sich die Welt aus kleinen Informationsschnipseln zusammenbasteln. Es enthüllt sich eine Welt, in der die Anderen (Frauen) die Männer völlig unterdrückt und zu Milchkühen degradiert haben. Vermutlich der Wunschtraum militanter Feministen. Die Geschichte ist raffiniert und eindringlich erzählt und regt zum Nachdenken darüber an, ob die Frauen in der Vergangenheit nicht ähnlich schlecht behandelt wurden.
Copyright ©2009 Martin Stricker.
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Erstellt am Di, den 26.05.2009 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am Mio, den 03.06.2009 um 22:29.