Vernor Vinge: Der Friedenskrieg (The Peace War, 1984) [Across Realtime Band 1]. Stuttgart, München 1989 (?), Deutscher Bücherbund, ohne ISBN, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Rosemarie Hundertmarck, Hardcover mit billiger Leimbindung und Schutzumschlag 13,4 cm x 20,1 cm, 351 Seiten, ?? DM
Captain Allison Parker, United States Air Force, macht bei einem Aufklärungsflug mit einer Raumfähre auf Wunsch ihres Freundes Paul Hoehler Tiefenaufnahmen des Hochenergie-Labors Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien, auf denen sie unerklärbare Strukturen vorfindet. Beim Landeanflug stürzt das Raumschiff unerklärlicherweise ab. Bastlergenie Paul Naismith entdeckt im schwarzen Flüchtlingskind Wili Wáchendon ein dem seinen ähnliches mathematisches Talent, als er ihn beim Computerspiel Celest beobachtet. Naismith nimmt Wili als seinen Lehrling auf, der das zunächst als gute Gelegenheit zum Stehlen ansieht, was bei den Jonques von Aztlán und den Ndelante Ali sein üblicher Lebensunterhalt war. Doch mit der Zeit faßt er Vertrauen zu Naismith und hilft ihm dabei, in den Nachrichtenverkehr der Satelliten des Friedensamtes einzubrechen, das die Erde beherrscht. Naismith ist eine der größten Hoffnungen der Bastler, das Friedensamt irgendwann stürzen zu können, und Wili soll ihm dabei helfen. Doch Wili leidet unter einer Erbkrankheit, die durch die als biologische Waffen verwendeten Seuchen des letzten Krieges vor 50 Jahren verursacht worden ist - ohne biowissenschaftliche Hilfe wird er in wenigen Jahren sterben. Biowissenschaften sind jedoch vom Friedensamt unter Androhung der Verblasung, eines Einschlusses in eine Kraftfeldblase, die zum Tod durch Ersticken führt, verboten. Naismith findet eine Gruppe von Biowissenschaftlern, die ein Heilmittel entwickelt haben, doch dazu muß Wili zurück nach Aztlán. Die Reise gelingt, doch sie werden an das Amt verraten...
Der Roman beginnt sehr langweilig. Die zukünftige Welt wird nur häppchenweise eingeführt, es herrscht keinerlei Spannung, und erst auf Seite 157 (alle Seitenangaben beziehen sich auf die Bücherbund-Ausgabe) sind alle Puzzlestücke beisammen, die die Welt zu einem stimmigen Ganzen machen. Erst danach baut sich langsam Spannung auf. Das Buch hat meine 100-Seiten-Schonfrist nicht überlebt, hätte ich es nicht für den Vernor-Vinge-Lesezirkel im SF-Netzwerk gelesen, wäre es beiseitelegt worden. Es entwickelt sich zwar später noch ein brauchbarer Spannungsbogen, aber wirklich zum Weiterlesen animiert der Roman nie.
Die Charaktere sind blaß, farblos und zweidimensional. Eine Charakterentwicklung findet nicht statt, im Gegenteil flüchten zwei Hauptprotagonisten am Schluß sogar vor den geänderten Bedingungen. Zwar werden die Hauptpersonen detailliert beschrieben, aber selbst über das Innenleben Wilis, aus dessen Perspektive weite Teile des Romans geschrieben sind, erfährt der Leser recht wenig. Es gelingt dem Autor nicht, den Figuren Leben einzuhauchen, da er ihnen zu wenig Individualität verleiht und sie eher als Werkzeuge benutzt, um die Handlung voranzutreiben und seine politischen Botschaften zu illustrieren.
Sprache und Stil sind leicht verständlich, aber auf niedrigem Niveau angesiedelt. Kurze Sätze, einfache Wortwahl, die der Autor durch wenige spanische und Nahuatl-Worte aufzupeppen versucht. Das Buch läßt sich leicht lesen, bietet von der Sprache her jedoch nichts Interessantes. Hinweis: Ich habe nur die deutsche Übersetzung gelesen, von daher sind meine obigen Ausführungen nicht unbedingt auf das englische Original anwendbar. Die Übersetzung scheint im Großen und Ganzen ordentlich zu sein, aus der englischen Wikipedia weiß ich aber, daß die Bastler im Original als "tinker" bezeichnet werden, was ich als Tüftler übersetzt hätte. Auf Seite 199 scheint der Übersetzerin aber ein deutlicher Fehler unterlaufen zu sein: Sie verwendet den Begriff Sensation vermutlich für das englische Wort "sensation", das in diesem Zusammenhang korrekt mit (Sinnes-)Wahrnehmung zu übersetzen gewesen wäre. Außerdem ist ab Seite 286 immer wieder von Tanks die Rede, statt das deutsche Wort Panzer zu verwenden, und auf Seite 347 steht Hei, wo im Original vermutlich der Kurzgruß Hi zu lesen sein dürfte.
In der Rückschau gibt es bei diesem vor 26 Jahren erschienenen Buch ein gewisses Umweltbewußtsein hervorzuheben, das in den USA zur damaligen Zeit noch praktisch gar nicht entwickelt war. Eukalyptus wird als invasiver Neophyt dargestellt, der die lokale Flora überwuchert (wenn auch immer nur in Landschaftsbeschreibungen), und die kalifornische Wüste ist nun aufgrund höherer Niederschläge von stark eukalyptuslastigem Urwald bedeckt. Von Klimawandel ist nicht die Rede, und die Änderungen werden nur beschrieben, nicht erklärt oder diskutiert, dennoch halte ich dies für bemerkenswert genug, um es herauszustellen.
Der Roman transportiert Gesellschafts- und Technologiekritik, so wird Hochtechnologie, die sich militärisch nutzen läßt, kritisiert, gleichzeitig aber auch die Technologieunterdrückung, zumal diese durch den Erfindungsreichtum der Bastler nicht durchgesetzt werden konnte. Die Biowissenschaften werden als Erzeuger biologischer Waffen gebrandmarkt, dürfen sich aber auch rechtfertigen, indem sie Krankheiten heilen. Rassismus, speziell gegen Schwarze, wird verurteilt, ebenso Chauvinismus und die Behandlung von Frauen als Bürger zweiter Klasse. Am Beispiel des Generationenwechsels im Friedensamt werden Institutionalisierung und Verselbständigung der Bürokratie ebenso dargestellt wie Kritik daran, daß der Zweck die Mittel heilige. Totalitarismus und Tyrannei werden deutlich bloßgestellt und auch insofern als unakzeptabel dargelegt, wenn jemand sie aus gutem Grund einführen zu müssen glaubt. Auf der anderen Seite handeln die Befreiten naiv und dumm, als sie erbeutete Waffen und Fahrzeuge an jeden, der Geld hat, verkaufen - meiner Meinung nach eine klare Kritik Vernor Vinges an den Waffengeschäften der USA mit diversen Diktatoren und Rebellengruppen. In diese Richtung könnte auch die Figur Christian Gerrault, Amtsdirektor für Europa und Afrika mit Sitz in Paris, weisen: er ist Schwarzafrikaner, fett, geldgierig, korrupt und hat Spaß am Foltern - ein Klischee, das die Rassismuskritik relativieren könnte, vermutlich aber ein deutlicher Bezug auf Idi Amin Dada, von 1971 bis 1979 Diktator von Uganda, ist - einer der Diktatoren, die auch von den USA gestützt wurden, und der wohl grausamste davon. Zum Zeitpunkt der Erscheinens dieses Romans lag der Sturz erst 5 Jahre zurück, es ist daher wahrscheinlich, daß die Anspielung verstanden wurde. Als Staats- bzw. Gesellschaftsform kommt auch die parlamentarische Demokratie nicht allzugut weg: Zwar wird die Republik von Neumexiko als einzig verbliebene parlamentarische Demokratie bezeichnet, aber auch als faschistoides Regime. Einzig die Bastler werden mit Ausnahme ihrer Naivität hauptsächlich positiv dargestellt, ihre Organisationsform ist wohl am ehesten als Anarchokapitalismus zu bezeichnen. Allerdings findet die Auseinandersetzung mit all diesen Themen immer nur im Vorübergehen statt, der Autor bezieht nie klar Stellung mit den beiden Ausnahmen Tyrannei und Frauendiskriminierung, letzteres vor allem deswegen, weil sich Allison Parker und zum Teil auch Della Lu sie hinzunehmen weigern - andererseits ist diese Diskriminierung sowohl im Amt als auch bei den Bastlern normal, keine Frau der Zukunft außer Della scheint dagegen aufzubegehren. Auf mich wirkt dieses Herumlavieren, als ob Veror Vinge entweder nicht weiß, was er will, oder sich nicht traut, seine Meinung offen zu sagen, um weder seine progressiven noch seine konservativen Leser zu verärgern. Es ist natürlich auch möglich, daß er seine Kritik den Lesern subtil beibringen will und er im Bereich Hochtechnologie und Biowissenschaften für einen Mittelweg ist, bei dem die Forschung unabhängig kontrolliert wird. Mir hat diese unklare, verwaschene, unreflektierte Haltung nicht gefallen, zumal das Buch auch wenig Anregung zum Nachdenken bietet.
Die im Roman verwendete Technologie, nicht nur die der Blasen, bleibt unerklärt - dabei ist Vernor Vinge Mathematikprofessor und Computerwissenschaftler - und wird als deus ex machina nur für ihren militärischen und plottreibenden Nutzen verwendet. Statt Blasen und Miniaturkameras könnten auch Zaubersprüche und Kristallkugeln verwendet werden. Die Nähe zur Fantasy zeigt sich auch auf Seite 72, als Raumfährenpilot Angus Quiller vermutet, "in so einen verdammten Fantasy-Roman gefallen" zu sein, sowie gegen Ende, als auf Seite 288 "Der Herr der Ringe" zitiert wird - leider erreicht das vorliegende Buch dieses Vorbild nicht einmal ansatzweise.
Fazit: Ein zunächst schleppend beginnender, dann doch relativ spannend erzählter Roman ohne sprachliche oder inhaltliche Höhepunkte, dessen schwach gezeichnete Charaktere und halbherzige Gesellschaftskritik wenig Lesefreude aufkommen lassen. Durch die einfache Sprache liest sich das Buch flott weg, bleibt aber kaum in Erinnerung. Nur für Freunde einfacher Unterhaltung geeignet.
Copyright ©2010 Martin Stricker.
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Erstellt am So, den 10.10.2010 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am Mo, den 18.10.2010 um 20:47.