Hermann Ritter, Johannes Rüster, Dierk Spreen, Michael Haitel [Hrsg.]: Heute die Welt - morgen das ganze Universum. Murnau am Staffelsee Mai 2016: p.machinery, ISBN-10 3-95765-049-8, ISBN-13 978-3-95765-049-8, Paperback mit 9 farbigen Abbildungen 12,7 cm x 20,3 cm x 1,3 cm, 216 Seiten, 11,90 EUR
enthält:
Aufgrund der zeitlichen und gesellschaftlichen Nähe der nationalsozialistischen Ideologie zu unserer Gegenwart ist eine unkritische Verwendung von deren Mythen-und Ideologiereservoir auch heute noch gefährlich. Dieses Buch soll aus drei Perspektiven - historisch, literaturwissenschaftlich und soziologisch - Hintergründe und Auswirkungen der nationalsozialistischen Ideologie und Mystik in der Phantastik, speziell der Science Fiction, untersuchen und verständlich machen, um "diesem tumben Raunen [...] ein paar helle Beiklänge [beizumischen]" (S. 9/10 und Klappentext).
Zunächst bereitet Hermann Ritter den Boden, indem er ausführt, was so faszinierend am Okkulten, an Esoterik und den daraus hervorgehenden Verschwörungstheorien und der dazugehörigen "Logik" ist und wie dies die phantastische Literatur beeinflußt. Der chronologische Ablauf beginnt im späten 19. Jahrhundert mit Edward Bulwert-Lytton, der sich die magische Kraft Vril ausdachte, und Helena Petrovna Blavatsky, die daraus die Theosophie begründete, und bereits hier zeigen sich rassistische Ansätze - eine weiße Kulturbringerrasse, ohne die die anderen Rassen, speziell die afrikanische, niemals Kultur habe entwickeln können. Dieses Wechselspiel aus fiktionalen Ideen, deren Verkauf als geheime, unterdrückte Wahrheit und das Wiederaufgreifen dieser okkulten Ideen in der Phantastik verfolgt der Artikel nun konsequent durch die Jahrzehnte, immer den rassistischen Unterton betrachtend.
Der Artikel legt die Entwicklung und gegenseitige Verflechtung von nationalsozialistischen Ideen und Mythen sowie der phantastischen Literatur chronologisch zusammenhängend dar. Leider gelingt dies in einigen Details für Neulinge des Themas nicht, da einige Ideen, z. B. Welteistheorie, Mu, Fnord und Perry Rhodan, vom Autor als bekannt vorausgesetzt und von ihm weder erklärt noch in den chronologischen Zusammenhang gebracht werden. Glücklicherweise kann der Leser einige davon selbst erschließen, da ihre ungefähre Bedeutung aus eigentlich zum Beleg anderer Überlegungen gedachter Zitate hervorgeht. Diese wenigen Auslassungen sind entschuldbar, zeigt doch die Länge von 117 Seiten (ohne Literaturliste, aber mit 4 Illustrationen, die vom Text nicht erwähnt und daher vom Leser selbst in Zusammenhang gebracht werden müssen), daß dieser historische Abriß ein überaus komplexes Wirkungsgeflecht zwischen fiktionalen und "faktischen" Texten beleuchtet. Es ist geradezu faszinierend zu sehen, wie definitiv fiktionale Ideen von Okkultisten für bare Münze gehalten oder zumindest als solche verkauft werden. Dankbar bin ich auch für die beiden Ansatzmöglichkeiten am Schluß, wie man derart irrsinnigen Argumentations"ketten" begegnen kann. Herman Ritter begegnet den besonders hanebüchenen Werken gern mit Sarkasmus und Ironie, was allerdings die Gefahr des Mißverständnisses birgt. Wer aber den Sarkasmus erkennt, wird seinen Spaß an diesem informationsreichen und gut geschriebenen Artikel haben.
Der Beobachtung folgend, daß sowohl im deutschsprachigen als auch im englischsprachigen Raum überdurchschnittlich viele Was-Wäre-Wenn-Geschichten Änderungen mit Bezug zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zum Thema haben, betrachtet Dr. Johannes Rüster dieses Phänomen genauer. Zunächst unterscheidet er zwischen essayistisch-wissenschaftlicher und belletristischer Herangehensweise, während erstere eher trocken mögliche Entwicklungen beschreibt, personifiziert letztere die Auswirkungen anhand der Erzählcharaktere. Rüster konzentriert sich nun auf die Alternativweltromane, die er in mehrere Kategorien einteilt und jeweils ein populäres und ein weniger bekanntes Beispiel anführt. Bei den Kategorien behandelt er nur kritische Ansätze und verweist bezüglich neofaschistischer Werke auf den Folgebeitrag von Dierk Spreen.
Der Artikel wird mit der Vorstellung der Serie »Stahlfront« und einer Inhaltsangabe der ersten zwei Bände, erschienen 2007 und 2008, sowie Informationen zur Indizierung der ersten drei Bände 2009 eingeleitet, um die Fragestellung zu verdeutlichen: Ist »Stahlfront« rechtsradikal, und sollte es deshalb indiziert, also nicht öffentlich erhältlich sein? Als nächster Schritt erfolgt eine Definition des Begriffs Rechtsradikalismus und die Untersuchung anhand der vier Kriterien Wehrmachts- und Nazimythologie, Gewaltrechtfertigung, Rassismus und nationalistisches Kollektivdenken, ob diese Definition auf »Stahlfront« zutrifft. Als nächstes wird die Methodik der Medienethik vorgestellt, wobei es hier zumindest 2009 nur Publikationen zu Filmen und Computerspielen gab, die Dierk Spreen nun für die Arbeit an Literatur diesem Medium anpaßt. Damit werden dann der Inhalt, die Rezeption und das Verhalten des Verlegers untersucht. Ein abschließendes Kapitel faßt die weitere Entwicklung, insbesondere das Verhalten des Verlegers, von 2009 bis 2016 zusammen.
Der Artikel erschien ursprünglich in »Das Heyne Science Fiction Jahr 2009«, herausgegeben von Sascha Manczak und Wolfgang Jeschke (München 2009: Heyne) und wurde für diese Wiederveröffentlichung ergänzt, überarbeitet und mit dem Schlußkapitel über das weitere Vorgehen des Verlegers versehen. Ich hätte mir hier auch eine ausführliche kritische Untersuchung der weiteren »Stahlfront«-Bände sowie der ins gleiche Horn stoßenden Romane eines »Heinrich von Stahl« gewünscht. Man kann nicht alles haben...
Methodologisch ist dies der beste Artikel des Buches, denn Dierk Spreen führt den Leser zunächst hinreichend ausführlich in die verwendete Methodik ein, bevor er diese auf das Untersuchungsobjekt »Stahlfront« anwendet. Dadurch können auch fachfremde Leser die Untersuchung und Argumentationslinie nachvollziehen. Dabei untersucht Spreen die Materie vorurteilsfrei und stellt auch Tatsachen heraus, die nicht ins erwartete Bild passen, so das nicht vorhandene nationalistische Kollektivdenken, dessen Fehlen er auf die Erwartungshaltung der SF-Leser zurückführt. Spreen gibt dem Leser hier ein Instrumentarium in die Hand, mit der er selbst einen Text, mit Einschränkungen auch ein anderes Medium, sowohl auf rechtsradikale Tendenzen wie auch auf medienethisch kritischen Inhalt untersuchen kann.
Fazit: Das Buch versammelt drei gut recherchierte Artikel, die sich dem Phänomen rechtsradikaler Science-Fiction aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln nähern. Zusammengenommen dietes es daher einen guten Überblick über die Problemstellung. Angenehm dabei ist, daß jeweils die verwendete Methodik vorgestellt und durch die jeweils angefügte Literaturliste bei Interesse vertiefbar wird. Schließlich sind auch die Schreibstile gut und angenehm zu lesen, auch wenn sich Hermann Ritters Sarkasmus nicht immer gleich erschließt. Unbedingt empfehlenswert!
Copyright ©2016 Martin Stricker.
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Erstellt am Donnerstag, den 16.06.2016 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am Do, den 25.08.2016 um 23:15.