Mikael Niemi: Das Loch in der Schwarte (Svålhålet)

Mikael Niemi: Das Loch in der Schwarte (Svålhålet). btb Verlag 2006 (2004), ISBN 3-442-75154-3, aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt, "Hardcover" mit billiger Leimbindung und Schutzumschlag 14,2 cm x 22,0 cm, 223 Seiten, 19,90 Euro

Mikael Niemi: Das Loch in der Schwarte (Svålhålet)

Auch wenn dieses Buch an einigen Stellen als Roman bezeichnet wird, handelt es sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, die meisten Stücke sind sogar eher Essays. Allen Gemeinsam ist das Thema Zukunft bzw. Weltraum, aber inhaltlich haben sie keine Verbindung.
Folgende Texte sind enthalten:

Achtung! In dieser Besprechung gehe ich teilweise sehr genau auf den Inhalt der Kurztexte ein. Wer sich also die Spannung nicht nehmen lassen möchte, sollte zuerst das Buch lesen. Es ist sein Geld wert - wer dabei nicht gut unterhalten wird und immer wieder schmunzelt, an einigen Stellen sogar laut lacht, der hat entweder keinen Humor oder keine ausreichende Intelligenz - Sie müssen schon mitdenken, um mitlachen zu können!


Abschied von Liviöjoki

Der Ich-Erzähler geht in seiner letzten Nacht auf der Erde noch einmal in seiner Heimat in die Sauna, um sich eine schöne Erinnerung zu erhalten.

Kurzer Text zum Anfüttern, unspektakulär, zeigt aber schon, daß der Autor auf hohem stilistischen Niveau gut erzählen kann.


Die Erde

Ein Mensch erklärt Außerirdischen im Roadercafé auf dem Asteroiden Wichssocke, daß er von der Erde stammt. Dieser Name für einen Planeten führt dazu, daß sich fast alle Außerirdischen totlachen (im Wortsinne!), was dem Menschen eine Mordanklage einbringt.

Ein herrlicher Humor, ganz auf meiner Linie. Ist ja eigentlich schon lächerlich, wie wir unseren Heimatplaneten nennen...


Ponoristen

Ponor ist die Abkürzung für Point of No Return, Punkt ohne Rückkehr, in diesem Fall der Zeitpunkt, nachdem die Hälfte der Vorräte der Weltraumfahrer verbraucht sind. Es gibt Menschen, die aus verschiedenen Gründen eben diesen Punkt überschreiten mit dem vollen Bewußtsein, niemals zur Erde zurückkehren zu können.

Ein hervorragender Einblick in die Abgründe der menschlichen Psyche, bei dem trotzdem (oder gerade deswegen) der Humor nicht zu kurz kommt.


Traumsafes

Da jedes Gramm Gewicht bei Weltraumflügen Unmengen an Treibstoff kostet, dürfen Roader keinerlei persönliche Gegenstände mitnehmen. Einzige Ausnahme ist der Traumsafe, in den geringe Mengen von 6 Substanzen gefüllt werden dürfen, an denen im psychischen Notfall gerochen werden kann.

Ein weiterer tiefer Einblick in menschliche Abgründe, diemal anhand der oft reichlich skurrilen Inhalte der Traumsafes. Dabei liegt Niemi völlig richtig: Der Riechkolben ist das einzige Sinnesorgan des Menschen, das eine unmittelbare Erweiterung des Gehirns ist, deshalb haben Gerüche so eine starke Wirkung auf uns und können ganze Erinnerungskaskaden auslösen. Wenn eine Schocktherapie einen Menschen aus psychischer Isolation holen kann, dann sind es Gerüche.


Steine

Pernilla Hamrin ist wild entschlossen zu beweisen, daß Steine bloß schlafen und das höchste Entwicklungsniveau im Universum erreicht haben. Die Frage ist nur, was passiert, wenn die Steine erwachen...

Eine herrlich schnurrige Persiflage auf Sektierer, Vegetarier, UFOgläubige und andere seltsame Persönlichkeiten, und dabei so genial geschrieben, daß diese sich sogar ernstgenommen fühlen könnten. Bedauerlicherweise drückt sich der Autor um die Beantwortung der Frage, wozu denn nun die erwachten Steine werden.


Big Bang

Diesmal geht es um die Entstehung des Universums im Urknall, auch Big Bang genannt. Da die Wissenschaft sich außerstande sieht, irgend etwas über die Zeit vor dem Urknall in Erfahrung zu bringen, wird das Geheimnis hier gelüftet. Also, alles bekann mit einem kalten Klumpen Grützwurst...

Herrlich skurriler Humor! Wieder einmal zeigt sich, daß wir in genau dem Universum leben, das wir verdienen... Leider drückt sich Niemi auch hier vor der wirklich interessanten Frage, wer denn nun der eigentliche Urheber des Ganzen ist.


Pause

Der Autor gönnt dem Leser eine Pause und redet ihm beruhigend zu.

Raffinierte Vorgehensweise! Auf diese Weise erfahre ich auch, warum das Buch aus lauter kurzen, unzusammenhängenden Geschichten besteht: Das Universum selbst besteht aus Fragmenten!


Emanuel

Emanuel Creutzer hatte sehr viel Pech im Leben. Murphys Gesetz begleitet ihn, doch als Physiker beschließt er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er entdeckt bösartige, pechverbreitende kleine Partikel in mißglückten Beschleunigerversuchen des CERN und benennt sienach dem Scheidungsanwalt seiner Frau Kurts.

Ein weiterer Ausflug in den herrlich skurrilen Humor Niemis, dessen gesamte Originalität möglicherweise nur Naturwissenschaftler wie ich zu würdigen wissen. Einfach genial: Bösartige Elementarteilchen sind schuld an unserem Pech! Leider drückt sich der Autor auch hier wieder davor, die letzte Frage nach dem Woher der Kurts zu beantworten, nachdem die grobe Richtung bereits enthüllt wurde.


Eis

Diesmal geht es um Weltraumreisen in Kryostasis - und die dabei auftretenden Sexträume.

Wieder eine skurrile Idee, bei der ganz nebenbei noch der Beweis für die Existenz einer Seele geführt wird. Diesmal zeigt sich die Neigung Niemis, sexualle Aspekte nicht auszusparen, besonders deutlich. Dabei gelingt es dem Autor, die Balance zwischen hohem Niveau und deutlichem Ausdruck nicht zu verlieren.


Das Roadermanifest

Die Roader sind die Fernfahrer des Weltraums. Teilweise über Jahre hinweg auf engstem Raum zusammenzuleben schafft Konflikte, deswegen gibt es das Roadermanifest - obwohl es offiziell gar nicht existiert.

Niemi legt hier mit gutem Einblick in die menschliche Psyche einen Gegenentwurf zu unserer kapitalistischen und hierarchischen Gesellschaftsform vor - die allerdings nur unter den besonderen Bedingungen eines langen Weltraumflugs funktionieren kann.


Gaganet

Das Gaganet verbindet das gesamte Universum miteinander. Die darin enthaltene Datenmenge ist fast so unendlich wie das Universum selbst, was zu einigen interessanten Entddeckungen und Enwicklungen führt.

Jetzt wissen wir also, wohin die Entwicklung des Internets führen wird: Wir werden die ersten bekannten Inschriften entziffern können, allen Unkenrufen zum Trotz wird das Lesen einen Boom erfahren, obwohl die Schriftsteller von der Bühne verschwinden werden. Warum? Lest das Buch, besser und humorvoller kann ich das auch nicht erklären!


Das Loch in der Schwarte

»Loch in der Schwarte« heißt die wohl berühmteste und berüchtigste Raumfahrerkneipe im Universum. Es handelt sich um einen ausgehöhlten Asteroiden, in dem Aliens aller möglichen Stoffwechselsysteme mit den für sie passenden Drinks bewirtet werden. Dabei ist das Loch nicht ungefährlich: Man kann angeknabbert, gefressen, vergiftet, verätzt oder zertrampelt werden. Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) ist der Besuch ein absolutes Erlebnis - sofern man an den saublöden (im wahrsten Sinne des Wortes) Türstehern vorbeikommt.

Diesmal nimmt Niemi nicht nur uns Menschen, sondern gleich sämtliche intelligente Spezies des Universum aufs Korn. Was zunächst nach einer einfachen Zechtour aussieht, wandelt sich schnell zu einer höchst vergnüglichen Abrechnung mit den Lebensgewohnheiten von allen möglichen (und ein paar unmöglichen) Lebensformen. Diese Geschichte gab nicht zu Unrecht dem Buch seinen Titel.


Stopp!

Der Autor gibt zu, daß das Buch den Leser an der Nase herumführen soll, denn es gibt gar kein intelligentes Leben außerhalb der Erde, und das Leben auf der Erde verdanken wir nur Holger!

Da hat mich der Autor doch tatsächlich reingelegt! Denn der Autor ist gar nicht der Autor, sondern ein Sektenmissionar, der das Buch kurzerhand für ein paar Seiten entführt hat! Herrliche Persiflage auf die Rekrutierungsmethoden diverser Sekten.


Androiden

Androiden sind eine nützliche Erfindung, allerdings sind einige von ihnen auf den Geschmack gekommen, sich wie Menschen zu verhalten - was die ihnen hoffnungslos unterlegene Menschheit natürlich nicht zulassen kann. Verschiedene Verfahren werden erdacht, um Androiden auch ohne Schädelröntgen zu enttarnen.

Interessant, was sich letztlich als Unterscheidungsmöglichkeit für Androiden herausstellt! Wir Menschen sind schon ziemlich verrückt...


Rutvik

Rutvik ist ein Satellit, auf dem man für ein paar Tage in eine perfekte simulierte Welt abtauchen kann, während der Körper von Maschinen versorgt wird. Eine reiche Erbin will länger spielen und kauft sich in den Satelliten ein. Ihre Gruppe schafft angeblich den Himmel, und erste Körper sterben, ohne daß die Personen im Spiel dadurch geeinträchtigt wären.

Die These, kybernetische Welten seinen angenehmer als die Wirklichkeit, wird immer wieder aufgestellt. Hier wird sie auf recht respektlose Weise angegangen.


Die Galaktosmethode

Überall im Universum wird für eine 100%ig garantierte Methode, Gewicht ohne Schlankheitskur zu verlieren, geworben. Schon bald wittern Verbraucherschützer Betrug.

Herrlich schnurrige Geschichte über das Aussehen der Welt unbd was passiert, wenn man zu sehr daran herumbastelt. Ein pfiffiger Geschäftsmann trickst mit einem physikalischem Kniff die Bevölkerung des gesamten Universums aus!


Nachtschicht

Die Besatzung eines Erzfrachters entdeckt ein offenbar schon länger totes Raumschiff. Einer muß hineingehen, um nachzusehen.

Keine sehr appetitliche Geschichte.


0,002

Die Erde wird erstmals von Außerirdischen besucht. Ihr Urteil: 0,002 - sovel Standardstimmen erhält die Erde im galaktischen Parlament.

Einmal sind wir Menschen keine Helden, sondern zählen zum Bodensatz des Universums. Niemi führt auf genial verschnörkelte Art den Unsinn von Überlegenheitsdenken vor.


Der letzte Winkel der Zeit

Mathematik-Studienrat Öyvind Kuno ist plötzlich besessen - er hört die Stimme von Nilson. Schnell wird ihm klar, daß der in einem Universum lebt, das etwa senkrecht zu unserem steht. Deshalb ist die Zeit für Nilson eine Art Teller, auf dem er sich bewegen und die Welt und die Zeit aus verschiedenen Winkeln betrachten kann. Öyvind schreibt darüber prophetische Bücher.

Verschrobene Geschichte über ein Wesen, das die Welt völlig anders wahrnimmt als wir.


Mikael Niemi scheint schlechte Erfahrungen mit Bestellungen per Postversand gemacht zu haben, möglicherweise während eines Aufenthalts in Nordfinnland. Wie sonst sind seine ständigen Seitenhiebe auf Postversandangebote an Nordfinnen zu verstehen? Auch vor vielen anderen Themen hat der Autor keinerlei Respekt und zieht sie gnadenlos durch den Kakao. Dabei legt er einen leisen und dennoch tiefgründig-bissigen Humor an den Tag, der mir hervorragend gefällt. Ich habe kaum irgendwo im Buch laut gelacht, aber ich hatte die ganze Zeit ein blödes Grinsen im Gesicht!

Niemi hat einen ungewöhnlichen Schreibstil. Er erzählt keine geradlinigen Geschichten, sondern schweift ab, verfolgt Gedankengänge oder Handlungsstränge, die scheinbar in überhaupt keinem Zusammenhang zur eigentlichen Geschichtestehen, und findet durch weitere Abschweifungen punktgenau wieder zur eigentlichen Handlung zurück. Durch diesen Kunstgriff, den Niemi gekonnt so aussehen läßt, als schweife ein Erzähler versehentlich kurz ab, gelingt es dem Autor mühelos, zusätzliche Informationen unterzubringen und sein Universum komplexer zu gestalten. Vielen anderen Autoren mißlingt dieser Trick, mit den Niemi seine Qualität als Autor zeigen kann. Eine Sache allerdings stört mich: Viele Geschichten gehen zunächst den Dingen auf den Grund, enden dann aber kurz vor Erreichen der allem zugrundeliegenden Frage. Mich als naturwissenschaftlich denkenden und wißbegierigen Menschen stört das sehr.

Interessant ist die Art, in der diese SF-Storysammlung beworben wird. Zwar wird nirgendwo gesagt, es handle sich um einen Roman, aber trotzdem wird versucht, diesen Eindruck zu hinterlassen. Das wird wohl daran liegen, daß immer angenommen wird, in Deutschland seien Kurzgeschichten schwer verkäuflich. Auch die Bezeichnung "Science Fiction" wird tunlichst vermieden, denn leider hat die Science Fiction in Deutschland bei der breiten Bevölkerung immer noch einen negativen Ruf. Das ändert natürlich nichts daran, daß dieses Buch eine Science Fiction-Storysammlung ist. :-) Zu schade, daß diese Tatsa´che in Deutschland zensiert wird! Aber vielleicht ändert diese Science Fiction Storysammlung ja diese Vorurteile wenigstens bei einigen Lesern, denn sie ist echt gut! Die einzelnen Geschichten sind zwar in sich abgeschlossen, haben aber ähnliche Themen und vor allem einen ähnllichen Stil, wirken damit wie aus einem Guß und lassen sich wunderbar am Stück lesen, was bei Anthologien mit Geschichten verschiedener Autoren so nicht möglich ist.

Fazit: Eine sehr gute Sammlung von Science Fiction-Geschichten mit einem hintergründigen und gerade deswegen treffsicheren Humor, die ich uneingeschränkt empfehlen kann. Mikael Niemi beleuchtet sowohl bekannte SF-Klischees als auch bislang völlig unbeachtete Themen aus einem neuen, schrägen und irgendwie entlarvenden Blickwinkel, daß es ein echtes Vergnügen ist.


Copyright ©2006 Martin Stricker.
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Erstellt am So, den 04.06.2006 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am So, den 04.06.2006 um 18:23.