Helmuth W. Mommers [Hrsg.]: Der Atem Gottes (Visionen 2004)

Helmuth W. Mommers [Hrsg.]: Der Atem Gottes (Visionen 2004). Shayol Verlag 2004, ISBN 3-926126-42-6, Paperback 13,0 cm x 20,0 cm, 251 Seiten, 14,90 Euro

Helmuth W. Mommers [Hrsg.]: Der Atem Gottes (Visionen 2004)

Andreas Eschbach: Quantenmüll

Zwei Hiwis an einem Kernforschungszentrum entdecken per Zufall im Beschleunigerring eine Art Kraftfeld, das alles spurlos verschluckt, was hineingerät. Der ideale Müllschlucker auf Quantenbasis...

Leider gibt es von Eschbach kaum Kurzgeschichten - zeigt er doch auch mit dieser, daß er auch die kurze Form meisterhaft beherrscht! Er nimmt dabei sehr geschickt die Situation vieler Akademiker aufs Korn (miese Jobs). Insgesamt eine sehr humorvolle Geschichte. »Eine Trillion Euro« hat mir allerdings noch besser gefallen, da zieht Eschbach gekonnt diverse SF-Klischees *und* unsere Politiker durch den Kakao...


Thorsten Küper: Der Atem Gottes

Der unzufriedene Biowaffenforscher Villon setzt kontrolliert (an seinen Kollegen!) einen Virus frei, der zu religiöser Hyserie führt...

Küper scheint ein Faible für religiös angehauchte Geschichten zu haben. Diese ist hervorrangend erzählt und meiner Meinung nach nach "Hayun" sein bislang zweitbestes Werk.


Ralph Doege: Alter Ego

Ein Zeitreisender begegnet seinem früheren Selbst, um seine eigene Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.

Zeitparadoxa sind doch immer wieder nett! Gut gemachte Geschichte. Das Ende hat mir allerdings überhaupt nicht zugesagt, das geht eher in Richtung Horror, der Sinn erschließt sich mir nicht.


Myra Çakan: Im Netz der Silberspinne

Spider, drogensüchtig und mit einem Computernetzimplantat im Gehirn, lebt in einer unschönen, übertechnisierten Zeit. Er hat Visionen von einer Silberspinne und sucht nun nach ihr.

Möchtegern-Cyberpunk, wie von Çakan zu erwarten. Ordentlich geschrieben, aber nicht mein Geschmack.


Erik Simon: Desiderius Felix

Ein Dolmetschcomputer erzählt über seine Zeit mit dem unfreiwilligen menschlichen Sklaven Desiderius Kemeney, der als sein Energieerzeuger und Träger fungieren mußte, während er für eine seltsame außerirdische Sekte tätig war.

Eine Geschichte mit skurrilem Humor, die mir gut gefallen hat. Die umständlich-antiquierte Erzählweise des Übersetzungscomputers faßt zur Geschichte wie die Faust aufs Auge - so muß das sein!:D


Andreas Gruber: Parkers letzter Auftrag

Winston Parker läßt sich Nanomaschinen injizieren, die ihn gesund und lange leben lassen sollen. Doch es gibt Fehlschläge...

Gute Geschichte, bei der man lange nicht weiß, was eigentlich gespielt wird. Parkers Methode ist allerdings reichlich kraß, aber das bin ich von Gruber ja gewohnt...


Michael Marrak: Relicon

Alphonse ist ein körperlich behindertes Genie der Erzeugung von Cyberspace-Welten, benötigt aber Blutplasma-Transfusionen seines Besuchers. Doch seine neueste Kreation, das religiöse Relicon, kann mehr, als es zunächst den Anschein hat...

Gut erzählt, der Leser weiß lange nicht, worauf die Geschichte hinauslaufen wird. Mal eine Geschichte von Marrak, die mir wirklich gefallen hat! Herrliche Ideen (wenn auch nicht alle neu), die er mit einer gehörigen Portion skurrilen Humors umsetzt.


Herbert W. Franke: Nur eine Infektion

Yona10 untersucht ein Phänomen des archaischen Zeitalters: Liebe. Sie findet heraus, daß es durch einen Virus hervorgerufen wurde.

Kurz und auf den Punkt gebracht - hier sitzt jedes Wort am richtigen Platz. Sehr gut gemacht! Das ist allerdings schon das zweite Gefühl, das in dieser Anthologie durch einen Virus hervorgerufen wird, wo soll das noch enden? ;)


Jan Gardemann: Case Modding

Durch Basteleien (Modding) erhalten einige Computer zufällig künstliche Intelligenz und sind nun selbst daran interessiert, durch weiteres Case Modding weitere Fähigkeiten zu erlangen.

Ungewöhnliche Erzählweise, die der Geschichte angemessen ist, die mich aber nicht wirklich überzeugt. Kann natürlich auch daran liegen, daß mir auch jedes Verständnis für Casemodding abgeht - meine Compis (ich habe momentan 4 parallel laufen) müssen laufen, das Aussehen ist irrelevant...


Rainer Erler: Die unbefleckte Empfängnis

Ein amerikanischer Kaufhausdetektiv hat Mitleid mit einer Latina, die nur Grundnahrungsmittel stieht, um etwas zu essen für sich und weitere Sektenmitglieder zu haben. Er verliebt sich in sie, und sie heiraten, aber sie hält sich für auserwählt, das Kind außerirdischer Götter auszutragen...

Eine interessante Geschichte, die den Trend zu UFOgläubigen Sekten raffiniert aufgreift. Gut gemacht und eindeutig SF!


Uwe Hermann: Die unwiderlegbare Wahrheit

Jacob Jones ist einer von 428 Zeithistorikern, die dafür sorgen, daß auch stimmt, was in den Geschichtsbüchern steht. Diesmal soll er für Imperator Charles XXI. das Volk der Weihnachtsmänner zu suchen.

Diese Geschichte zeichnet sich durch einen herrlich frechen Humor aus, ich habe mich bei der Lektüre geradezu schlappgelacht! Auch wenn der Ausgang ziemlich vorhersehbar ist, diese Geschichte ist sehr gut.


Helmuth W. Mommers: Universal Soldier

Die Menschheit setzt Universal Soldier ein, Soldaten, die nach ihrem Tod auf dem Schlachtfeld immer wieder neu geklont und mit den erinnerungen des letzten Brain-Scans versehen werden. Neil wird Prototyp einer neuen Entwicklung: Eine Black Box speichert die Erinnerungen bis zum Tod, damit die US dringend benötigte Kampferfahrung nutzen können.

Tja, neue Erfindungen haben nicht immer die erwarteten Ergebnisse... Gute Story, wie von Mommers gewohnt sehr gut erzählt. Die Motivation von Neil wird mir allerdings nicht klar - aber das kann auch an meiner grundsätzlichen Abneigung vor solchem Gemetzel liegen...


Robert Kerber: Das Sterben der Engel

Autos und andere Umweltverschmutzer sind verboten. Yvonne nimmt an einem illegalen Rennen teil und überlebt schwerverletzt einen Unfall in der neuen Flutzone.

Eine düstere Geschichte über den Tod, die nicht so ganz in diese Sammlung paßt. Hat mir nicht zugesagt, ist aber gut geschrieben.


Jörg Isenberg: Motormond

Nach dem Einschlag eines Meteoriten fiel die Erde in eine neue Eiszeit. Motormond ist ein Satellit und wird von Cholea Nostros programmiert, unabhängig zu denken und zu handeln.

Gut erzählte Geschichte, die mich stark zum Nachdenken angeregt hat. Leider ist die Geschichte etwas unübersichtlich erzählt, aber das eigentlich wichtige sind die ethischen Implikationen: Darf Cholea Motormond umprogrammieren und (fast) alle Menschen zum Tode verurteilen? Nein! Aber wenn sich nur so etwas von der menschlichen Kultur retten läßt? Tja...


Malte S. Sembten: Jagdausflug

Ein außerirdischer Jäger will ein besonderes Exemplar der Gattung Mensch erlegen...

Das Opfer ist eine interessante Überraschung - nach derzeitiger (und wohl auch zukünftiger) Rechtslage allerdings nicht möglich. Gut erzählt.


Karl Michael Armer: Die Asche des Paradieses

Nach massiven Anschlägen moslemischer Terroristen, die auch den Vatikan vernichtet haben, übernimmt Papst Urban IX. die Macht und organisiert einen christlichen Gegenschlag. Dieser Krieg zieht sich schon Jahrzehnte hin, und es gibt nur Verlierer.

Gute Geschichte, die eindringlich die Gefahren religiöser (und anderer) Fanatiker schildert. Äußerst nachdrückliche Schilderungen der Kriegsgeuel wechseln sich mit besinnlich-philosophischen Szenen ab, die Geschichte erhält dadurch einen für ihre Kürze erstaunlichen Tiefgang. Das Ende ist gut ausgearbeitet (auch wenn nicht klar wird, was daraus hervorgehen wird).


Marcus Hammerschmitt: Harmageddon

Reinhold Messner (nicht der Bergsteiger) baut sich auf einem dänischen Inselchen einen Überlebenscontainer für den Fall des dritten Weltkriegs. Als der eintritt, macht er sich am nächsten Tag auf Erkundungstour und findet keinerlei Menschen, aber eine sich extrem schnell entwickelnde und gefährliche Natur.

Die geschilderte extrem schnelle Entwicklung (innerhalb nur eines Tages!) ergibt keinen Sinn, so würde das niemals ablaufen. Der Stil ist schwach, die Geschichte macht mehr den Eindruck einer Fingerübung - der Beginn wirkt, als solle etwas humorvolles dabei herauskommen, aber der Rest der Geschichte paßt nicht dazu. Dies ist die mit Abstand schlechteste Geschichte der Anthologie - seltsam, daß laut Vortext zur Story Marcus Hammerschmitt »von vielen als der anspruchsvollste zeitgenössische deutsche SF-Autor angesehen« wird. Dazu fällt mir nur ein Zitat aus einem Lied von Reinhard Mey ein: »Wenn keiner weiß, was es bedeuten soll, sagen wir erstmal: Das ist anspruchsvoll!« ;-) Naja, ich vermute mal, daß der Herausgeber in dieser Geschichte irgendwas gesehen hat, das sich meinem Verständnis entzieht...


Fazit: »Visionen 2004« ist die beste deutschsprachige SF-Anthologie, die ich überhaupt gelesen habe. Nova kommt, obwohl selbst gut, nicht an diese Qualität heran. Ich hatte ja meine Bedenken, als Helmuth W. Mommers seine Trennung von Nova bekanntgab, aber er hat eindrucksvoll bewiesen, daß er recht hatte. Nur die letzte Geschichte trübt das Bild, aber vielleicht liegt das auch an mir... Auf jeden Fall hat dieses Buch meine höchste Empfehlung!

»Visionen 2004« ist außerdem fast eine Themenanthologie SF und Religion - die Geschichten von Thorsten Küper, Erik Simon, Andreas Gruber, Michael Marrak, Rainer Erler, Uwe Hermann und Karl Michael Armer haben mehr oder weniger starke Bezüge zu Religion. 7 von 17 Geschichten, das ist fast die Hälfte! Von daher ist der Titel »Der Atem Gottes«, wiewohl nur Titel einer der Geschichten, auch ein guter Titel für die ganze Anthologie.


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Erstellt am Sa, den 22.01.2005 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am So, den 03.12.2006 um 16:14.