Wolfgang Jeschke: Das Cusanus-Spiel. Droemer Knaur 2005, ISBN 3-426-19700-6, »Hardcover« mit billiger Leimbindung und Schutzumschlag 14,0 cm x 21,5 cm, 704 Seiten, 24,00 Euro
Domenica Ligrina stdiert in Rom Botanik und läßt sich vom inzwischen nach Salzburg übergesiedelten Vatikan anwerben, um in der Vergangenheit Samen ausgestorbener Pflanzen wiederzubeschaffen. Die Menschheit hat bis um das Jahr 2050 viele Pflanzen ausgerottet, der schlimmste Schlag war die Explosion des Kernkraftwerks in Cattenom, das ganz dem Kalkül der erbauenden französischen Regierung den größten Teil Deutschland sowie Teile der Tschechei und Polens bis zur Unbewohnbarkeit verstrahlt hat.
Die Zeitreise funktioniert, indem eine vergangene Szene so exakt wie möglich simuliert wird. Gelegentlich durchlaufen stehende Wellen (Solitone) aus unermeßlicher Gravitationsenergie die Raumzeit auf- oder absteigend und nehmen Reisende dabei mit in die Vergangenheit und bringen sie zurück in ihre Zeit. Reisen in die Zukunft sind nicht möglich, denn man keine vernünftige Simulation einer zukünftigen Szenerie erstellen. Manchmal funktioniert dir Transition auch nicht: Würde eine Reise die Vergangenheit in wichtigen Punkten verändern, wird diese Veränderung offenbar von einer Art Schutzprogramm verworfen, und die Reise findet gar nicht erst statt - oder nur in einem instabilen Paralleluniversum.
Jeschke läßt sich furchtbar viel Zeit, bis seine Geschichte endlich losgeht. Meine übliche 100-Seiten-Gnadenfrist verstrich ungenutzt. In diesem Fall bin ich allerdings froh, daß ich das Buch, da für den Deutschen Science Fiction Preis 2006 nominiert, vollständig lesen mußte. Es folgt nämlich doch eine interessante Geschichte! So um Seite 250 rum hat mich der Roman dann doch gepackt. Das heißt aber nicht, daß die Handlung nun rasanter oder gar spannend würde, aber der ganz eigene Charme der jeschkeschen gemächlichen und doch zielgerichteten Erzählweise hat mich gefangengenommen. Das Buch macht es dem Leser nicht leicht, man kann es nicht verschlingen, sondern muß mitunter länger darüber nachdenken. Ich denke, das ist genau das, was Jeschke erreichen möchte, denn die Zeitreisegeschichten sind nur Mittel zum Zweck. Der Autor nimmt die wichtigsten Probleme unserer Zeit aufs Korn: Umweltverschmutzung, die Gefahren der Atomenergie, Artensterben sowie Migrations- und Integrationsprobleme durch die vielen Flüchtlinge infolge des Klimawandels (Dürre und ansteigender Meeresspiegel). Dabei hat er die bereits jetzt deutlich (wenn man es denn sehen will) Anzeichen der Klimaveränderungen nur um 50 Jahre in die Zukunft extrapoliert, und die sieht (auch ohne das Atomunglück) miserabel aus. Durch eine Parallelwelt, in der die Wissenschaft nie von der Kirche behindert wurde, kommt es zu genau den gleichen katastrophalen zuständen (nur 100 Jahre früher), mit diesem Kunstgriff enttarnt Jeschke alle Versuche, die Klimaänderungen auf andere Ursachen abzuwälzen oder zu verniedlichen, als böse Heuchelei.
Warum sich Jeschke ausgerechnet für das frühe 15. Jahrhundert als Zielpunkt von Domenicas Reise entschieden hat, kann mir der Autor nicht stringent genug vermitteln. Die meisten Pflanzen wären auch im 19. oder 20. Jahrhundert noch beschaffbar gewesen, und das erheblich unproblematischer und ungefährlicher. Dann hätte der Roman allerdings anders heißen müssen, denn obwohl Kardinal Nicolaus Cusanus nicht wirklich aktiv am Geschehen teilnimmt, stellt er eine der Schlüsselfiguren dar. Besonders irritierend finde ich die insgesamt viermalige Schilderung desselben Tages in seinem Leben - einerseits ein Gefühl des Déjà-vu, andererseits mußte ich aufpassen, daß ich die teils subtilen Unterschiede nicht überlesen habe. Das titelgebende Cusanus-Spiel existiert tatsächlich, ist aber für die Handlung ohne Belang. Der Buchtitel ist ein ziemlicher Fehlgriff, der ursprüngliche Titelvorschlag »Ein Hühnchen für Cusanus oder Abendländisches Kaleidoskop« hätte viel besser gepaßt.
Jeschke vermag eindringlich zu erzählen und mit seinen guten, aber nie übertriebenen Beschreibungen das Geschehen lebendig werden zu lassen. Die Beschreibungen Amsterdams und Kölns kann ich aus eigener Erfahrung nachvollziehen und bestätigen, allerdings schreibt Jeschke den Namen des Hauptbahnhofes Centraal Station konsequent falsch als Centralstation. Der Schreib- und Sprachstil ist auf hohem Niveau, und Jeschke gelingt dies fast spielerisch, ohne daß das Ganze aufgesetzt oder mit einer Unmenge eigentlich überflüssiger Adjektive überfrachtet wirkt. Das gelingt leider nur den wenigsten Autoren.
Fazit: Eins der tiefgründigsten Bücher, das ich je gelesen habe. Noch dazu ist es gut geschrieben, leider beileibe keine Selbstverständlichkeit. Das gemächliche Tempo, das Jeschke vorlegt, dürfte nicht jedermanns Sache sein und hat auch mich vor allem am Anfang gestört. Im Gegensatz zu vielen anderen Romanen finde ich hier (außer vielleicht am Anfang) nicht wirklich Stellen zum Kürzen - das Buch braucht einfach diese Gangart, um sein ganzes Potential und seine ganze Wirkung zu entfalten. Von manchen Rezensenten wird dieser Roman als »Opus Magnum« bezeichnet. Ich mag diese Bezeichnung nicht verwenden, aber das Buch ist in mehrere Hinsicht groß: Der Umfang von 700 Seiten, die vielen guten Ideen, das komplex gezeichnete Multiversum... Für alle, die sich vom gemächlichen Erzählstil nicht abschrecken lassen: Unbedingt lesen!
Bibliographische Information: Die Parallelweltgeschichte »Die Cusanische Acceleratio« aus diesem Roman erschien bereits 1999 in der von Erik Simon herausgegebenen Anthologie »Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod« und wurde mit dem Kurd-Laßwitz-Preis 2000 als beste Kurzgeschichte des Jahres ausgezeichnet.
Copyright ©2006 Martin Stricker.
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Erstellt am So, den 30.04.2006 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am So, den 30.04.2006 um 20:21.