John Clagett: Das perverse Paradies (A World Unknown). München 1980 (1975), Wilhelm Goldmann Verlag, ISBN 3-442-23364-X, Taschenbuch 11,5 cm x 17,9 cm, 192 Seiten, 5,80 DM
Da die US-Regierung kein atomgetriebenes Flugzeug bauen wollte, hat der Unternehmer Matthew Marsden 1964 selbst eines bauen lassen. Beim ersten offiziellen Testflug soll sein Neffe, der junge Englischprofessor und eher technikfeindliche Schriftsteller Simon Ash, an Bord sein, um einen wohlwollenden Bericht für die Presse zu verfassen. Doch beim Flug gibt es Probleme mit dem Reaktor. Eine Notlandung gelingt, und Ash kann aus dem Flugzeug aussteigen und wegrennen, bevor es zur Atomexplosion kommt. Er findet sich nackt in der Nähe der Landestelle wieder, die allerdings jetzt ganz anders bewachsen ist. Auch sonst hat sich vieles geändert: Die Bebauung mutet eher mediterran an, und er kann die Sprache nicht verstehen, Lateinisch ist es jedenfalls nicht. Ash wird von Lucian Haraldson, dem jüngsten Sohn des Adligen Marcus Harald, eingefangen und erstmal in der lokalen Sprache Sonländisch unterrichtet. Er stellt schließlich fest, daß in dieser Welt weder Christentum noch Islam jemals existiert haben und Kaiser Konstantin der Große das römische Reich in kleinere Einheiten teilte, die die Völkerwanderung überlebten. Fast die gesamte Erde wird von den Nachfolgestaaten Roms beherrscht, die auch Kriege gegeneinander führen, doch hat es nie diese heftigen Religions- und Nationalkriege gegeben wie in unserer Zeit. Eins haben die Sonländer aber von den Römern beibehalten: Die Sklaverei. Zwar verdienen Sklaven nun Geld und können sich nach etwa 20 Jahren freikaufen, aber während der Sklaverei können sie nach wie vor verkauft und für viele Vergehen sogar gefoltert und getötet werden, wie Ash am eigenen Leib erfahren muß.
Clagett nutzt hier die Angst vor Atomunfällen geschickt aus: Zwar entkommt Ash dem unmittelbaren Zentrum der Explosion, aber er wird in ein Paralleluniversum geschleudert. Das erweist sich von einigen kleineren Unannehmlichkeiten abgesehen zunächst als Paradies, und zwar eines, das wenig mit der Prüderie der USA zu tun hat. Wer allerdings durch den deutschen Titel und das deutsche Titelbild erwartet, daß es »zur Sache« geht wie z. B. im Gor-Zyklus von John Norman, wird enttäuscht - die Sexualität kommt zwar deutlich vor, wird aber nicht ausgiebig beschrieben.
Die Handlung schreitet relativ behäbig voran, trotzdem gelingt es dem Autor, den Leser zu fesseln und zum Weiterlesen zu animieren. Statt sich auf den Aufbau der Spannung zu konzentrieren, gibt er kulturellen Überlegungen seines Hauptprotagonisten Raum und gönnt damit dem Leser intellektuelle Atempausen, die zum Nachdenken über unsere Welt anregen.
Der Schwerpunkt des Buches liegt weniger auf der Charakterentwicklung als vielmehr auf der Beschreibung der Gesellschaftsform der Parallelwelt und dem Vergleich mit den USA zur damaligen Zeit. Als weiterer Vergleich kommen noch die »wilden« Indianer hinzu, denen der Autor deutlich mehr Zivilisation zubilligt, als dies die Sonländer tun, wobei auch Ash, der im vorigen Leben ein Buch über die Prärieindianer geschrieben hatte, positiv überrascht wird.
Dabei überfällt Ash hin und wieder der Gedanke, daß das Fortbestehen der Sklaverei am Fehlen des Christentums, am Fehlen des liebenden Gottes, liegt. Andererseits sieht er auch, daß das Fehlen einer industriellen Revolution mit der einhergehenden Bevölkerungsexplosion durch den fehlenden Bevölkerungsdruck die Unterdrückung und nahezu vollständige Ausrottung der Indianer verhindert hat, denn die Nachfolgestaaten des Römischen Reiches haben nur einige Bereiche an der Küste besiedelt. Dabei sehen die Sonländer die Indianer als kulturlose Barbaren an, die automatisch Sklaven sind. Dafür hat es in dieser Welt nie die entsetzlichen Religionskriege gegeben, Kriege kommen zwar vor, sind aber seher selten. Als Rechenbeispiel hat der Erste Weltkrieg in unserer Welt mehr Todesopfer gefordert als alle Kriege der letzten 500 Jahre in dieser Welt insgesamt. Dieser Widerspruch, daß die Welt, in die es Ash verschlagen hat, insgesamt weniger gewaltsame Tode aufweist als seine ursprüngliche Welt, in der aber die Nächstenliebe zur Aufhebung der Sklaverei geführt hat, wird leider nicht weiter hinterfragt oder analysiert, sondern bleibt so im Raum stehen, und die Handlung geht weiter, als sei nichts geschehen.
**** Spoilerwarnung! Wer das Ende des Buches nicht wissen will, lese bitte beim Fazit weiter! ****
Erst auf den letzten Seiten des Buches zeigt sich, daß diese verstreuten Überlegungen um das Christentum Methode haben, denn dort trifft Simon Ash auf Jesus, wendet sich aber ab, da er befürchtet, Frau und Kinder verlassen zu müssen. Jesus meint zwar, diesen Fehler diesmal nicht begehen zu wollen, doch Simon geht trotzdem, denkt aber über das Angebot nach.
Hier zeigt sich meiner Meinung nach erneut die Unausgegorenheit von Clagetts Ideen. Ich bezweifle doch sehr, daß die Einbeziehung der Familien Jesu Apostel die späteren Religionskriege hätte verhindern können. Im frühen Christentum spielten Familien eine große Rolle, viele Gemeindevorsteher (Vorläufer der Priester) waren Frauen. Erst die Übernahme von Riten des Mithras-Kultes, die Anerkennung durch Kaiser Konstantin und die Erklärung zur Staatsreligion durch Kaiser Theodosius haben dem Christentum die starre, patriarchalische Priesterstruktur aufgezwungen, die letzlich eine Weiterführung der römischen Priesterstruktur ist. Spätestens durch Kaiser Theodosius wurde das Christentum von der Politik instrumentalisiert. Die erwähnten Religionskriege instrumentalisieren die Religin in den meisten Fällen ebenfalls - Hauptziel Karls es Großen war nicht, die Sachsen zu missionieren, sondern ihre Überfälle auf sein Territorium zu beenden und dabei seinen Machtbereich zu erweitern. Die Kreuzzüge hatten politischen Hintergrund, und oft wurden Kreuzzugsversprechen von Herrschern nur gegeben, um einen politischen Vorteil zu erringen. Die Reformation und die darauffolgenden Kriege dienten weniger der Bekämpfung der Fehler der katholischen Kirche als vielmehr dem Unabhängogkeitsstreben der Fürsten gegen Kaier und Papst, indem sie sich selbst zum Oberhaupt der Kirche in ihrem Herrschaftsbereich machten.
Der zweite Punkt, an dem John Claggett meiner Meinung nach irrt, ist der postulierte Frieden zwischen den Nachfolgestaaten des Römischen Reiches. Die Idee der »Pax Romana« ist zwar nicht neu, meines Erachtens aber trotzdem falsch. Das Römische Reich war ein Unterdrückungsstaat, eine Militärdiktatur (das Militär bestimmt in der Ära der Soldatenkaiser sogar den Machthaber), in der Freiheitsbestrebungen brutal unterdrückt wurden. Bestes Beispiel dafür ist die Niederschlagung des Judenaufstands 70 n. Chr. durch Vespasian und Trajan. Außerdem gab es ständig Eroberungskriege zur Erweiterung des Machtbereichs. Als Schreckensbeispiel für die Kriege unserer Zeit verwendet Clagett immer wieder den Ersten Weltkrieg, der aber keinen religiösen, sondern einen nationalistischen Hintergrund hatte und bei dem es vor allem um umstrittene Territorien ging. Ähnliche Prozesse würden auch zwischen den Nachfolgestaaten des Römischen Reiches stattfinden, die vielen Kriege der Mitkaiser gegeneinander während des Reiches lassen dies jedenfalls für mich wahrscheinlich erscheinen.
Da es in der Parallelwelt nie einen technischen und kulturellen Rückschritt ins Mittelalter gab, ist mein dritter Kritikpunkt, daß der technische Stand eher etwas niedriger als der in unserer Welt 1964 ist. Die Entwicklung wäre vermutlich weniger in Richtung großer Maschinen verlaufen, da durch die Sklaverei genügend billige Arbeitskräfte zur Verfügung standen, aber Massenmedien zur Verbreitung von Unterhaltung und Propaganda in Weiterführung der Maxime »panem et circenses (Brot und Spiele)« hätten gut ins Konzept gepaßt. Hier hätte der Autor in guter Science-Fiction-Manier zukünftige Entwicklungen postulieren können, läßt diese Chance aber leider ungenutzt.
**** Ende der Spoilerwarnung ****
Fazit: Ein ordentlich erzähhlter Parallelweltroman mit einigen Längen, der durch Vergleichsversuche mit unserer Welt zum Nachdenken anregen will. Bedauerlicherweise hat der Autor selbst nicht allzu genau über seine nur angedeuteten Schlußfolgerungen nachgedacht, so daß ich diesen Roman als gutes Beispiel für eine gutgemeinte, aber letzlich mißlungene alternative Welt ansehe. Es besteht allerdings die Möglichkeit, daß vor 28 Jahren die Erkenntnisse der Historiker noch anders lauteten als sie dies heute tun. Das Buch liest sich gut, weist aber die von mir kritisierten inhaltlichen Ungereimtheiten auf.
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Erstellt am So, den 23.11.2008 von Martin Stricker.
Zuletzt geändert am So, den 30.11.2008 um 17:51.